Berufsverband der
Gebärdensprachdolmetscher/-innen
in Norddeutschland (BGN) e.V.

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Was ist Gebärdensprache?

— Eine Einführung von Michaela Grosche —

Viele Menschen glauben irrtümlicherweise, die Deutsche Gebärdensprache (DGS) sei mit Gebärden sichtbar gemachtes Deutsch. Manche glauben, in der DGS könne man nur konkrete Dinge ausdrücken oder es sei eine universale Gebärdensprache, die von Gehörlosen auf der ganzen Welt gleichermaßen benutzt würde.

Die moderne Sprachwissenschaft hat jedoch in den letzten drei Jahrzehnten weltweit nachgewiesen, dass die nationalen Gebärdensprachen der Gehörlosen in Komplexität und Ausdrucksfähigkeit den nationalen Lautsprachen in nichts nachstehen. Dies gilt auch für die DGS. Sie ist kein gebärdetes Deutsch oder lautsprachbegleitendes Gebärden, sondern besitzt eine eigene Grammatik und ein spezifisches Lexikon. Beides muss für die DGS genauso gelernt werden wie die Grammatik und der Wortschatz der deutschen Sprache oder anderer Fremdsprachen.
In DGS kann man ebenso differenziert konkrete oder abstrakte Gedanken ausdrücken wie in Deutsch. Gebärdende können sich über Philosophie, Literatur oder Politik genauso unterhalten wie über Fußball, Autos und ihre Steuererklärung. Auch Witz, Scherz und Satire können in Gebärdensprache ebenso feinsinnig und beißend sein wie in Lautsprache. Als Reaktion auf kulturelle und technologische Veränderungen entwickelt sich die DGS wie jede andere Sprache immer weiter.

Die DGS benutzt als Sprachinstrument andere Teile des Körpers als die deutsche Sprache. Dabei spielen insbesondere die manuell im Gebärdenraum vor dem Oberkörper ausgedrückten Zeichen, d.h. die Gebärden, eine wichtige Rolle. Zusätzlich, meist sogar gleichzeitig mit diesen manuellen Zeichen, werden auch Mimik, Kopf- und Körperhaltung zum Ausdruck grammatischer Merkmale und Funktionen eingesetzt. Weniger offensichtlich ist dabei, dass viele grammatische Strukturen in der DGS anderen Regeln und Prinzipien unterliegen, als die der deutschen Sprache.

Wie Hörende, die überall auf der Welt in unterschiedlichen Sprachen kommunizieren, verständigen sich auch Gehörlose in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich. Jedes Land hat seine eigene nationale Gebärdensprache. Deshalb gibt es auch z. B. eine Amerikanische, Französische, Britische, Chinesische und Thailändische Gebärdensprache. Selbst innerhalb der DGS lassen sich, vergleichbar mit der deutschen Sprache, regionale Dialekte feststellen.

Die DGS hat sich in der Gehörlosengemeinschaft Deutschlands entwickelt, also überall dort, wo mehrere Gehörlose und insbesondere gehörlose Kinder regelmäßig zusammentrafen. Das sind in erster Linie die Großstädte mit ihren Gehörlosenclubs und Internatsschulen. Selbst die Schulen, die ausschließlich auf das Erlernen der deutschen Sprache ausgerichtet waren, gaben der Entwicklung der DGS wichtige Impulse, denn obwohl es im Klassenzimmer verboten war, Gebärden zu benutzen, gaben die Kinder gehörloser Eltern und gehörlose Angehörige der Schulen ihre Sprache außerhalb des Unterrichts von Generation zu Generation weiter.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde von Seiten der Pädagogen europaweit versucht, Gehörlose davon abzubringen, ihre Gebärdensprachen zu verwenden. Viele Erzieher und Lehrer glaubten, dass nur das Sprechen und Absehen Gehörlosen einen Zugang zur hörenden Welt ermöglichen könne, eine Meinung, die heute in vielen internationalen Untersuchungen zum Spracherwerb gehörloser Kinder ad absurdum geführt werden konnte. Trotzdem stehen noch heute in Deutschland Vertreter der ähnlich einseitigen medizinisch-pädagogischen Ansätze der Verwendung von Gebärdensprache in Erziehung und Bildung Gehörloser ablehnend gegenüber.

Demgegenüber wird von Gehörlosen die Verwendung von Gebärdensprache, mittels derer sowohl Inhalte als auch kulturelle Werte der eigenen Sprachgemeinschaft übermittelt werden, nicht als Nachteil angesehen. Vielmehr ermöglicht ihnen die DGS, z. B. durch den Einsatz von Dolmetscher/innen, eine Teilhabe an der hörenden Mehrheitsgesellschaft. Die Gehörlosengemeinschaft kann also als eine Gruppe von Menschen beschrieben werden, die einer sprachlichen und kulturellen Minderheit angehören.

Nach der sprachwissenschaftlichen Anerkennung muss die DGS nun noch gesellschaftlich, politisch und juristisch anerkannt werden, denn erst dadurch wird deutlich, dass Gehörlose nicht als "arme taubstumme Behinderte", denen man helfend zur Seite stehen muss, angesehen werden wollen. Gehörlose sind hingegen vollwertige Mitglieder der Gesellschaft, die den berechtigten Anspruch haben, sich mittels Dolmetschern weiterbilden und Informationen erhalten zu können. Nur so wird der im Grundgesetz verankerte Gedanke der Chancengleichheit erfüllt werden können.

2001-08-28 zur Startseite

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